“Die Diagnose klingt missverständlich”
Seit vielen Jahren lebt Sascha mit einer schweren Behinderung, die nicht nur seinen Alltag bestimmt, sondern auch und vor allem den seiner Frau, seiner Töchter und seines Sohns. Dabei ist Sascha gesund. Es geht um Sarah, seine Tochter, die ihre Geschichte nicht selbst erzählen kann. Sarah ist vierzehn Jahre alt, doch wegen ihrer globalen Entwicklungsverzögerung verhält sie sich eher wie ein Kleinkind. Nach 13,5 Jahren Pflege in der eigenen Familie haben ihre Eltern für Sarah endlich einen Platz in einer betreuten Einrichtung und damit Raum und Zeit für die Bedürfnisse aller Beteiligten bekommen.
Man sieht es Sarah nicht an
Sarah ist die jüngste von drei Schwestern und die große Schwester ihres Bruders Zayn. Bei ihrer Geburt wirkte sie gesund wie jedes andere Baby. Doch seit ihrem Kleinkindalter hat das Mädchen sich geistig nur wenig verändert. Ihre Entwicklungskurve steigt seit Jahren um nur 1 bis 2 Grad, wofür die Diagnose lautet: globale Entwicklungsverzögerung. „Missverständlich“, nennt ihr Vater Sascha (45) das, weil man sich unter einer Verzögerung vorstelle, dass noch etwas kommt. Doch je älter Sarah wird, desto weiter entfernt sie sich körperlich von ihrem geistigen Entwicklungsstand. Ihre Behinderung wird dadurch immer spürbarer, ihr Umfeld reagiert im besten Fall irritiert.
Denn, auch das ist Teil der Behinderung: Sarah sucht Kontakt zu Menschen wie ein Kleinkind. Dazu gehören Anfassen und Fragenstellen auch bei Fremden, wobei sie optisch beinahe wie ein ganz normales Teenagermädchen erscheint. Auf Verständnis für Sarahs unübliches Verhalten stoßen sie und ihre Familie in der Öffentlichkeit daher nur manchmal.
Systemische Mängel und fehlende Fachkräfte belasten zusätzlich
Doch obwohl sie ihren Alltag nicht allein meistern kann, wird Sarah nicht professionell betreut. Trotz Pflegegrad 4 und Schwerbehindertenausweis lebt sie wie ein normales Kind bei ihrer Familie in Hamburg. Ihre Mutter arbeitet nicht, weil sie rund um die Uhr für ihre Tochter da sein muss. Sarah kann nicht allein duschen, muss gewickelt und beinahe ununterbrochen beaufsichtigt werden. Selbst die Nächte sind unruhig, weil Sarah nachts „Wohnungsbesichtigungen“ vornimmt, wie ihre Familie es nennt. Sascha gab seine Karriere als Betriebsleiter und kurz darauf als Restaurantleiter auf und arbeitet als Kellner; der Job ist sicher, die Arbeitszeit geregelt. So können sie zu zweit für Sarah da sein, Sascha kann die Nachtwache und das Wickeln übernehmen, seine Frau kommt zu ein wenig mehr Schlaf.
Denn (nicht nur) in Hamburg ist die Anzahl der Betreuer für geistig behinderte Kinder gering. Sascha weiß aus eigenen Recherchen, dass in dem Bundesland monatlich circa 100 – 200 Anfragen von Familien eingehen, die dann auf die lediglich 3 – 4 stationäre Betreuungsstätten für geistig behinderte Kinder verteilt werden. Und auch eine Heimbetreuung ist nicht zu bekommen, obwohl er und seine Frau es immer wieder versucht haben. Alle 3 Monate kommt ein Betreuungsdienst zu ihnen nach Hause, um der Krankenkasse zu melden, ob es Sarah gut geht. Sascha hat schon einen der Mitarbeiter gefragt, ob er Sarah betreuen würde. Sie vereinbarten einen Probetermin. Doch die Kosten würden die monatliche Betreuungsleistung des Staates an einem einzigen betreuten Tag aufbrauchen. Jede weitere Stunde müsste die Familie aus eigener Tasche zahlen.
Hoffnung geben vereinzelte Ansprechpartner und Institute
Das behördliche Beratungszentrum Sehen Hören Bewegen Sprechen war im Jahr 2012 für die Eltern erster Hoffnungsträger, als sie merkten, dass mit Sarah etwas nicht stimmte. Es erstellte das Gutachten, führte Tests durch, stellte die Diagnose und verwies dann an das Werner Otto Institut, ein sozialpädiatrisches Zentrum im Hamburg. Dort ist man „auf die Diagnostik und Behandlung von Entwicklungsverzögerungen und Behinderungen bei Kindern und Jugendlichen und die Beratung der Eltern spezialisiert.“ Die Beratung dort war sehr nett, kümmerte sich rundum, half bei der Pflegegeldbeantragung und weiterem.
Und doch: „Man muss alles selbst machen. Keine Kasse ist verpflichtet, dir zu helfen, weder bei der Anamnese, Diagnose, noch bei der Hilfe, Betreuung, Pflege“, sagt Sascha rückblickend. Unter anderem darum haben sie noch immer keine exakte Diagnose für Sarah. Entwicklungsverzögerungen können verschiedene Ursachen haben, zeigen sich sehr unterschiedlich. Sarah knickt mit den Knien ein, weist hemiparese Züge auf, also die einer halbseitigen Teillähmung. Eingetragen ist das im Behindertenausweis aber nicht. Ein großes Bild der Humangenetik könnte das ändern, wird aber von der Krankenkasse nicht getragen. Überall setzt das System Grenzen, zum Beispiel auch bei der Anschaffung eines Lerncomputers, den Sarah für die Schule benötigt. Gefördert wird nur ein einziges bestimmtes Modell, aber mit dem käme Sarah nicht zurecht.
Eine unglaublich lange Zerreißprobe für die ganze Familie
„Es ist für die größeren Schwestern einfach nervig geworden“, sagt Sascha und weiß, dass das hart klingt. Immerhin ist Sarah die kleine Schwester, um die die älteren sich sorgen oder kümmern sollten in den Augen Außenstehender. Doch Angelina, 15, und Klaudia, 21, haben ihre eigenen Leben und wollen nur, dass diese sich – endlich! – nicht permanent um ihre Schwester drehen. Und ihr kleiner Bruder Zayn-Anthony (3), inzwischen mit seinen kognitiven Eigenschaften weiter als Sarah, muss sich häufig gegen sie zur Wehr setzen, wenn sie ihn wie eine Puppe durch die Wohnung zu ziehen versucht und zu ihm wie auch zu den großen Schwestern ständig den Kontakt sucht. Klaudia hat den Eltern grad ihren ersten Freund vorgestellt. Auch das ist Leben, es kann nicht immer und vor allem mit einem Kleinkind im Haus, um Sarah gehen. Aber solang sie zuhause wohnt, geht es immer auch im Sarah.
Über Jahre hat die Familie zudem keinen Urlaub gemacht. Pro Monat erhält sie 150 € staatliche Betreuungsleistung. Der Plan war es, diese durch Nichtbeanspruchung aufzusparen. Dann wäre genug Geld da, um Sarah für zwei Wochen in eine Pflege zu geben und selbst in den Urlaub zu fahren, sofern Geld für diesen zusätzlich da ist. Bisher aber musste Erspartes immer für ungeplante Hürden eingesetzt werden.
“Wir leisten seit Jahren eine Eins-zu-Eins-Betreuung.”
Als Sarah darum 2021 in der „Anscharhöhe“ ein Probe-Wochenende verbringen durfte, war die Freude in der Familie groß. – Genauso groß wie die Enttäuschung, als die Einrichtung eine dauerhafte Aufnahme Sarahs ablehnte mit der Begründung, diese bräuchte eine Eins-zu-eins-Betreuung, und die könne man nicht leisten. „Was tun wir denn familienintern die ganze Zeit?“, fragte Sascha in einer E-Mail an die Einrichtungsleitung empört. Sie wussten sich nicht weiterzuhelfen, hatten doch schon alles versucht. „Die eine Einrichtung nahm Sarah nicht, weil sie keine körperliche Behinderung hat, die nächste hat Sarah anfangs im Kennenlerngespräch gar nicht beachtet im und sie genötigt, still sitzenzubleiben, bis wir fertig sind, statt auf sie einzugehen.“ Ihre Ansprechpartnerin für die Vermittlung in eine Einrichtung schlug letztlich vor, Sarah mit dem Stichwort „Kindeswohlgefährdung“ in eine Notunterkunft zu bringen. Doch das kam für Sascha und seine Frau überhaupt nicht infrage, so aufgeheizt die Stimmung inzwischen auch war.
Saschas Optimismus hält alles zusammen
„Wenn Sarah in einer Einrichtung lebt, in der sie betreut wird, in der sie glücklich ist, haben auch wir als Familie wieder die Möglichkeit, zueinander zu finden“, sagt Sascha. „Wir sind am Ende!“ Dass der Weg zu einer passenden Unterkunft für Sarah so schwierig und nervenaufreibend würde, dass die Emotionen so hochkochen würden, hätten sie nicht gedacht. In seiner Not rief Sascha im Jugendamt an. Auch dort wollte man die Kindeswohlgefährdung als Argument für eine zügige Unterbringung in einer Einrichtung nutzen. Sarahs Mutter stellte klar, sie würde sich ihr Kind weder wegnehmen noch in eine beliebige Unterbringung verfrachten lassen, die in einem solchen Fall nicht einmal auf Sarahs Behinderung eingerichtet sein müsste. Sascha weiß, was das bedeutet, wohnte als Kind selbst jahrelang in einer solchen Unterkunft, erlebte, wie ein Sarah ähnliches geistig behindertes Mädchen den ganzen Tag nach seiner Mama schrie.
„Wir müssen Ruhe reinbekommen,“ sagte Sascha dem Jugendamt. Diese gaben seinen Fall an das Amt für Eingliederungshilfe weiter, wo mithilfe eines Jugendspsychologen nach einer passenden Einrichtung für Sarah gesucht werden sollte. Als wochenlang wieder nichts geschah, organisierte Sascha ein erneutes Probewohnen in der Anscharhöhe – erfolgreich! Zu den Sommerschulferien 2023 sollte bei finaler Zusage endlich der Wechsel für Sarah in ein neues Zuhause erfolgen. Doch eine letzte Hürde folgte noch: „Es waren 183 Seiten Papier, die wir mal eben aus dem Ärmel schütteln mussten“, erzählt Sascha. Nur 10 Tage hatte er Zeit dafür und schaffte es irgendwie, die Dokumente auszufüllen, Kopien der geforderten Unterlagen auszudrucken und rechtzeitig einzureichen. Sarahs Umzug sollte nun doch schon vor den Ferien erfolgen. Die Familie atmete auf – bis auf Sarahs Mutter, die unter ihren Emotionen zusammenbrach. Am Tag von Sarahs Umzug weinte sie beinahe unentwegt. Sarah selbst war zwischen Besorgnis und Freude hin und her gerissen.
Lange blieb die Kostenzusage des Amts aus
Obwohl Sascha alle Unterlagen rechtzeitig eingereicht hatte, sandte das Fachamt sandte keinen Jugendpsychologen zur Beurteilung und Sarahs Aufnahme in der Einrichtung erfolgte zunächst ohne die eigentliche Kostenzusage. Hätten sie gewartet, wäre der Platz anderweitig vergeben worden. Erst im September, 3 Monate nach Sarahs Einzug, kam die Zusage endlich und erschütterte Sascha stark: „Sage und schreibe um die 11.500 € kostet dieser Platz für unsere Tochter monatlich. Wenn man bedenkt, dass man als Elternteil bzw. Familie monatlich 728 € Pflegegeld für eine 24/7-Betreuung erhält, steht das trotz der professionellen Hilfe in keinem Verhältnis!“
Den Umzug und die Neueinrichtung ihres Zimmers bezahlte Sarahs Vater aus eigener Tasche mit einem Darlehen, genauso wie den dringend nötigen Urlaub auf Malta für seine Frau und die Töchter. Noch zahlt er es ab. Weil seine Frau nicht mehr permanent für Sarah da sein muss, konnte sie aber schon im Juli 2023 anfangen, in Teilzeit zu arbeiten. Auch seine älteste Tochter jobbt nun neben der Schule. Der Eigenverdienst der Familie ist gewachsen, aber es reicht noch immer nicht, schon gar nicht für einen Urlaub mit der gesamten Familie.
„Sarah ist glücklich, das macht mich glücklich!“
Jedes zweite Wochenende verbringt Sarah bei ihrer Familie und in den Ferien steht ihr frei, dort auch für längere Zeit zu bleiben. Einerseits freut das Mädchen sich, ihre Eltern und Geschwister zu sehen, andererseits sagt sie aber auch, sie möchte wieder „ins Haus gehen”, so sehr gefällt es ihr in der Einrichtung. Auch die neue Schule macht ihr Spaß. Und Sascha kann über den neuen Familienalltag sagen: „Wir haben mehr Freiheiten, auch mal einen gemeinsamen Abend etwas länger zu erleben. Keinen Gedanken daran verschwenden, wann Sarah uns aus dem Schlaf reißt, um sich wickeln zu lassen.“ Und sie können mit den anderen Kindern länger draußen bleiben, können tun, was sie wollen.
Noch hatten Sascha und seine Frau keine Zeit für einen Pärchenabend, aber auch das steht ganz fest auf dem neuen Plan. Noch müssen sie sich an ihr anderes, freieres Leben, gewöhnen, die Trauer bewältigen, die mit der Veränderung mitschwingt. Sascha sagt: „Sarah ist glücklich, das macht mich glücklich. Meine Frau hängt noch im schlechten Gewissen, aber die Zeit wird es weisen. Meine Kinder, wie auch Freunde betonen, dass meine Ruhe und Stärke die Familie nicht auseinanderbrechen lässt. Und meine Frau hat 13,5 Jahre täglich keine Nacht durchgeschlafen und eine enorme Energie gebildet. Uns muss lediglich mehr Gutes widerfahren, damit dieses Gefühl, es geschafft zu haben, bei allen ankommt.“
Bildnachweis:
privat
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