Zwei Schwestern, zwei Söhne und ihre seltene genetische Erkrankung

Zwei Schwestern, zwei Söhne und ihre seltene genetische Erkrankung

Natem hat Hämophilie A, eine genetisch bedingte Erkrankung. Doch nun erhält er eine moderne Therapie und lebt ein fast normales Kinderleben.

Zwei Schwestern, zwei Söhne und ihre seltene genetische Erkrankung

Als die Zwillingsschwestern klein waren, ahnten sie nicht, dass sie ihren Söhnen einmal die seltene Hämophilie A vererben würden. Sie kannten ihre genetische Disposition nicht, denn trotz manchmal verstärkter oder längerer Blutungen waren auch ihre früheren Ärzte ahnungslos.

 

Die gleichen blonden Haare, die gleichen wachen Augen – als Johanna und Alina vor 43 Jahren auf die Welt kamen, waren die Schwestern kaum auseinander zu halten. Und wie es bei eineiigen Zwillingen oft ist: „Wir waren sehr eng“, erzählen die beiden. Ganze 23 Jahre lang blieb es so, bis aus den Mädchen junge Erwachsene geworden waren. Mit Mitte 20 starteten die beiden Schwestern aus dem rheinischen Neuss durch: Johanna heiratete Marcus und wurde zum ersten Mal Mutter – Sohn Maximilian hat mittlerweile sein Abitur in der Tasche -, und Alina zog für einen Luxusmakler nach Salzburg, um dort das Geschäft aufzubauen.

Damals ahnte noch niemand, dass die beiden jungen Frauen sich auch in einer seltenen genetischen Disposition gleichen: sie können an ihre Söhne eine Blutgerinnungsstörung vererben, sind sogenannte Konduktorinnen, Überträgerinnen der Krankheit. Betroffen von der im Volksmund „Bluterkrankheit“ genannten Hämophilie A sind fast ausschließlich Jungen, und das mit einer Wahrscheinlichkeit von 50%. Oft wissen Frauen, wie auch die beiden Schwestern, nicht, dass sie das Gen in sich tragen, da sie selbst kaum Symptome der chronischen Erkrankung haben oder diese nicht richtig erkannt werden. Johanna und Alina zum Beispiel litten als Kinder nach ihrer Mandelentfernung unter extremen Nachblutungen. Auch ihre erste Menstruation hielt voll drei Wochen unvermindert an. Kein Arzt, keine Ärztin schöpfte Verdacht.

Erst der zweite Sohn war betroffen

Es war Johanna, die mit Geburt ihres zweiten Sohnes Felix erfuhr, dass sie Überträgerin ist. Dem gesunden Sohn Maximilian folgte 2012 Felix und erbte die Erkrankung in einer schweren Form. Der Kleine war gerade acht Monate alt, als plötzlich Hämatome an seinem Bauch auftauchten. „Der Kinderarzt hielt die blauen Flecken für Prellungen“, erinnert Johanna sich. Sie solle sich keine Sorgen machen, hieß es. Doch vorsorglich wurde die Familie in die Uniklinik Düsseldorf überwiesen. Eine Blutuntersuchung brachte die eindeutige Diagnose: Hämophilie A.

Für Familie Stein begann eine Odyssee. Jede Verletzung von Felix war ein lebensbedrohliches Ereignis. Behandelt wurde die Krankheit zunächst mit Injektionen des Faktor VIII, einem wichtigen Baustein der Blutgerinnung, der den Erkrankten fehlt. In einer Operation bekam der Kleine dafür extra einen Portkatheter unter sein Schlüsselbein, weil die Venen von kleinen Kindern zum Spritzen oft einfach zu dünn und kaum sichtbar sind. Felix musste darüber mehrmals pro Woche gespritzt werden. Zunächst ging das nur in der Klinik, die Eltern mussten den vor Schmerzen schreienden Felix festhalten. Nach dem Besuch eines sogenannten Spritzenkurses konnten die Eltern die Behandlung zuhause durchführen: Vater Marcus und Bruder Maximilian hielten Felix fest, Johanna spritzte. Felix schrie, er weinte. Alle litten. Es war ein täglicher Kampf, der bis zu seinem 6. Geburtstag anhalten sollte.

Dann, endlich, wurde Felix‘ Eltern ein innovatives Medikament empfohlen, das subkutan, also zum Beispiel in eine Bauchfalte, und viel seltener gespritzt werden kann.

Ein Leben auf der anderen Seite der Welt

Während Johanna und ihre Familie in Düsseldorf um die Gesundheit von Felix kämpften, zerbrach Alinas Beziehung. Sie entschied: „Ich brauche eine Auszeit.“ Im Dezember 2014 macht sie sich auf nach Südamerika, kommt nach Costa Rica, Nicaragua, Kuba, Kolumbien. Sechs Monate später erreicht sie Ecuador und begegnet drei Schamanen. Sie prophezeien Alina: hier wird sie ihre wahre Liebe kennenlernen und mit ihm zwei Kinder bekommen, ein Mädchen und einen Jungen. „Verrückt,“ denkt die damals 33-Jährige, denn eigentlich war ihr medizinisch schon lange bescheinigt worden, sie könne keine Kinder bekommen. Doch dann trifft sie auf Nantu, einen Medizinmann der im Amazonas lebenden Indigenen. Es ist auf beiden Seiten Liebe auf den ersten Blick. Doch Alina will vernünftig sein, reist wieder ab. Nur eine Woche später kehrt sie zurück zu diesem besonderen Mann, zwei Wochen später heiraten die beiden ungleichen Liebenden, weitere drei Monate später ist Alina schwanger.

Im April 2016 wird Tochter Maya dann in Österreich geboren, wohin ihre Mutter wegen einer schweren Erkrankung während der Schwangerschaft zurückgeflogen war. Die Kleine ist ihrem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten, doch drei lange Jahre kann Alina mit der gemeinsamen Tochter nicht zurück zu ihrem Mann und Mayas Vater. Endlich klappt es mit der Rückreise nach Ecuador. Sechs Jahre später wird Alina zum zweiten Mal schwanger. Im Juni 2022 wird ein Junge geboren, Natem. Die Schamanen hatten Recht behalten.

Sechs Autostunden bis zum nächsten Krankenhaus

Was sie nicht prophezeit hatten: Natem teilt das Schicksal von Alinas Neffen Felix. Auch er hat schwere Hämophilie A geerbt. Nach einer Untersuchung in seinem Geburtskrankenhaus im Amazonas färbte sich seine kleine Babyhand über Nacht schwarzblau, verursacht durch ein riesiges Hämatom und die Blutgerinnungsstörung.

Alina war geschockt. Doch ihr blieb keine Zeit zum Nachdenken. „Johanna hat direkt Alarm geschlagen, sie wusste sofort, dass auch Natem Hämophilie hat,“ sagt Alina rückblickend. „Ich habe oft gedacht: Was, wenn es mich auch trifft?“ Denn seit Felix‘ Diagnose war sie sich des großen Risikos einer Übertragung der chronischen Krankheit immer bewusst. Und so überraschend ihre zweite Schwangerschaft auch kam, hatte sie das Baby doch unbedingt gewollt. Doch sie kannte Felix‘ Probleme mit seinen Medikamenten, hatte seine OPs aus der Ferne mitbekommen und welche Traumata und Ängste die schmerzhafte Therapie (nicht nur) bei ihm ausgelöst hatten. Sie waren nur mit viel Liebe, Ablenkung durch besondere Unternehmungen und auch einen Kinderpsychologen zu mildern gewesen.

Die Verfügbarkeit der Therapie spielt eine immense Rolle

Der Aufwand, medizinische Hilfe und Medikamente zu organisieren, ist im Amazonasgebiet ungleich höher als hier in Deutschland. Von ihrem Wohnort aus fährt Alina sechs nicht ungefährliche Autostunden bis ins Kinderkrankenhaus in Quito. „Zum Glück habe ich ein Auto, das funktioniert“, sagt sie. Und auch, wenn sie dafür „alle Kräfte zusammennehmen muss“, wie sie gesteht, blieb sie mit den Kindern in Ecuador. Selbst, als im Krankenhaus schwere Behandlungsfehler gemacht wurden, gegen die Alina und ihr Mann allerdings erfolgreich klagen konnten.

Sobald Natem beginnen würde zu laufen, würden sich die Blutungen besonders in Gelenken und Muskulatur häufen, wusste Alina durch Johannas Erfahrungen. Der Kleine musste schnell eine hilfreiche Therapie erhalten. Die Familie hatte Glück im Unglück: Weil die Erkrankung in Ecuador als „Katastrophenkrankheit“ gilt, zahlt der Staat die nötigen Medikamente. Und nicht zuletzt durch Johannas Hilfe bekommt auch der inzwischen zweijährige Natem die gleiche innovative Therapie wie sein älterer Cousin Felix. „Als erstes Kind in Ecuador und lebenslang“, freut sich Alina, dass sie dies für ihr Kind erstreiten konnte. Denn auch hierfür musste sie vor Gericht, und auch sonst ist es im Amazonas noch schwierig. Bei den jüngsten Unruhen im Land konnte Alina immerhin erreichen, dass die Medikamente für Natem zu ihr gebracht werden.

Chronisch krank und trotzdem voll dabei

In Düsseldorf vermisst Johanna die Schwester und deren Familie. „Es ist schade, dass die Kinder sich kaum kennen“, sagt sie. Video-Telefonate helfen, ersetzen aber kein reales Treffen. Aus dem kleinen Felix ist ein zwölfjähriger Teenager geworden, dem man seine chronische Erkrankung nicht anmerkt. Früher malte er viel und griff dabei fast nur zur schwarzen Farbe. Erst mit der neuen Therapie wurden seine Bilder bunter und fröhlicher, wie der Junge selbst. Seit Jahresbeginn 2024 hat er keinen Port mehr unter dem Schlüsselbein, die permanent offene Stelle am Körper, durch die früher Medikamente in seinen Körper flossen. Sie wurde überflüssig, weil Felix mit der modernen Therapie nur noch alle zwei Wochen unter die Haut gespritzt werden muss. Auch bei Natem reicht dieses Behandlungsintervall.

Man sieht den Jungen nicht mehr an, dass sie chronisch krank sind. Zwar hat Felix einen Schwerbehindertenausweis, kann jedoch eine normale integrative Schule in Düsseldorf besuchen, inzwischen sogar ohne spezielle Begleitung. Und auch, wenn er nicht alle Sportarten selbst ausüben darf: „Bei Mannschafts-Sportarten, bei denen häufig gerempelt wird, muss er vorsichtig sein“, sagt Johanna, so ist er doch ein sportlicher Junge. Schwimmen, Skifahren, Radfahren und Laufen darf er, auch Trampolinspringen ist in Maßen erlaubt und auch wichtig für ihn: „Gute Muskeln stabilisieren die Gelenke, und in stabilen Gelenken kommt es seltener zu Blutungen“, weiß seine Mutter. Anfangs durfte er in der Schule nur zuschauen, inzwischen spielt er mit – und zwar richtig gut! Felix‘ Lieblings-Fußballverein? „Natürlich Fortuna Düsseldorf!“

Die Zwillingsverbindung hält sie zusammen

Wie sich die schwere Hämophilie A bei seinem kleinen Cousin Natem weiterentwickelt, lässt sich noch nicht sagen. Doch der Kleine ist ein fröhlicher Wirbelwind, der sämtliche Herzen mit einem Augenaufschlag für sich einnimmt. Dabei mochte er unter seiner alten Therapie vor Schmerzen nicht einmal laufen und bekam inzwischen eine 40%-ige Behinderung bescheinigt. Kaum zu glauben, wenn man sieht, wie viel Spaß der Junge jetzt an Bewegung hat. Im Sommer, so haben die beiden Schwestern geplant, wollen sich die Familien endlich treffen. Und weil sich Johanna und Alina nicht nur so ähnlich sind, sondern auch dieselbe Art haben, Herzenswünsche durchzusetzen, wird das auch klappen, sind sich die beiden sicher.

Und auch wenn Johanna und Alina sich schon seit Beginn ihrer Ausbildungszeit vor über 20 Jahren nur noch unregelmäßig treffen konnten, ist den eineiigen Zwillingen doch eins geblieben: eine „telepathische Verbindung“, wie Johanna es nennt. „Wir spüren, wenn es der anderen schlecht geht.“ Und dann sind sie füreinander da, obwohl oder gerade, weil sie heute in so unterschiedlichen Welten leben.

Bildnachweis: Privat & Nina Schöner Fotografie

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