Musikalisch stark für Inklusion

Musikalisch stark für Inklusion

Musikalisch stark für Inklusion

Als Christian nach nur sechs Monaten Entwicklung im Mutterleib als Frühchen zur Welt kam, sorgte Sauerstoffmangel im Gehirn für Spastiken im gesamten Körper des Neugeborenen. Heute ist er 49 Jahre alt und dauerhaft auf einen Rollstuhl angewiesen. Auf seinem rechten Auge ist er blind, auf dem linken fast. Im Alltag braucht er für die meisten Handgriffe Hilfe, doch ein ruhiges oder einsames Leben führt Christian keinesfalls. Sein Lachen ist ansteckend und seine positive Energie spürbar. Die Musik und eine lange Freundschaft geben ihm die Kraft dafür.

Zwei Leben voller Musik

Christian genießt sein Leben in vollen Zügen, ist ständig unterwegs, trifft in seiner Freizeitgruppe und beim Training im Fitnessstudio regelmäßig Freunde und ist gerne unter Menschen. Seine ganz großen Leidenschaften sind die Musik und das Singen. Bereits im Alter von vier Jahren entdeckte er im Kindergarten die Musik für sich. Später auf der Körperbehindertenschule trat er als Sänger sogar in der Schuldband auf. Schließlich trat er dem Gospelchor Effatah in Rheinstetten-Mörsch bei, wo er nun schon seit über 22 Jahren singt. „Wenn es mir mal nicht gut geht, dann ist die Musik eigentlich das Einzige, was mich wieder aufbaut,“ sagt er.

Auch Nina (23) wusste schon als kleines Mädchen ganz sicher, dass die Musik eine wichtige Rolle in ihrem Leben spielen sollte. „Mein großer Traum war es immer, irgendwann als Hauptrolle auf der Bühne zu stehen.“ Gesagt, getan: Nach ihrem Schulabschluss ließ sie sich zur Musical Darstellerin und Schauspielerin ausbilden, war schließlich sogar Teil eines Sommermusicals. Dennoch hat Nina sich in dem Beruf nicht wiedergefunden: „Ich bin gerne daheim bei meinen Eltern und wünsche mir auch eine eigene Familie, das konnte ich mir mit dem Beruf einfach nicht vorstellen.“ Seit März 2020 arbeitet sie als Polizistin und ist überglücklich mit ihrer Entscheidung. Die Musik bleibt ihr trotzdem noch als großes Hobby. Neben dem Singen ist Nina sehr aktiv, hat lange Tennis gespielt und hilft ihrem Vater Mario Hirschler in seinem Fitnessstudio SENTIREE in Rheinstetten aus. Jede Woche trainiert sie dort Menschen mit Behinderung, ließ sich sogar zur Fitnesstrainerin in B-Lizenz ausbilden.

Chronische Gelenkschmerzen sind der Alltag

Im Jahr 2016 hatte Felicia so schlimme Rücken- und Gelenkschmerzen, dass sie es kaum noch aushielt: „Es fühlte sich an, als würde meine Wirbelsäule brechen“, berichtet sie. Neben vielen weiteren unspezifischen Beschwerden kam eine Störung des autonomen Nervensystems hinzu, die mit einem massiven Anstieg der Herzfrequenz verbunden war. „Mir wurde andauernd schwarz vor Augen und ich kippte um“, erzählt Felicia. Aufgrund des hohen Adrenalinspiegels in ihrem Körper war auch ihr Schlaf massiv beeinträchtigt.

Damals äußerte ihre Hausärztin zum ersten Mal den alles verändernden Verdacht auf das Ehlers-Danlos-Syndrom (EDS), mit dem sie bei einer anderen Patientin bereits Erfahrungen gesammelt hatte.

Mit Sport für Zusammenhalt

Die Idee, Menschen mit Behinderung in das Training in seinem Fitnessstudio einzubeziehen, hatte Ninas Vater Mario schon lange. Er wollte etwas Gutes tun und den oft von der Gesellschaft Vernachlässigten helfen, für ein paar Stunden ihrem Alltag zu entfliehen und etwas für sich zu tun. Das spezielle Samstags-Training gibt es jetzt schon seit 12 Jahren. Dabei steht vor allem eines im Mittelpunkt: „Es geht um das Zusammensein. Wir wollen zeigen, dass Menschen mit Handicap in die Mitte unserer Gesellschaft gehören,“ sagt Hirschler. Seit 2008 ist die Aktion SENTIREE hilft das Herzstück des Teams. Sie beinhaltet Veranstaltungen wie Adventsfeiern, Spendengalas, Duelle und Ernährungs- und Trainingscoachings. So kommt eine vielfältige Gesellschaft zusammen und spendet für Bedürftige.

Als Christian von dem Fitnesstraining bei SENTIREE erfuhr, war er sofort Feuer und Flamme. „Christian war einer der ersten, der zum Training erschienen ist,“ erinnert sich Nina. „Seitdem kommt er jeden Samstag.“ Gemeinsam trainieren sie für die eigene Staffel beim jährlichen Rheinstetten-Triathlon. „Für mich ist das Schöne, mit den Leuten zusammenzukommen und ihnen dabei zu helfen, etwas für sich selbst und ihre Gesundheit zu tun,“ sagt Nina. Die Leidenschaft für den Sport verbindet sie, doch dass die beiden schließlich noch etwas viel Größeres miteinander verbinden würde, ahnten sie zu Beginn noch nicht.

Von der Hantel ans Mikrofon

Es war an einem Samstag beim Training mit Ninas Vater, als Christian im Gespräch ganz nebenbei erzählte, dass er für sein Leben gerne singt. Er sprach von seinem Gospelchor und seinem Traum, als Sänger auf der Bühne zu stehen und ein Lied in einem Tonstudio aufzunehmen. Da war die Verbindung zu Nina natürlich nicht weit.

Kurzerhand mieteten Mario und Nina ein Tonstudio und planten einen Auftritt auf ihrer Jubiläumsgala „10 Jahre SENTIREE hilft“. Das ist jetzt drei Jahre her. Gemeinsam nahmen sie den Peter Maffay Song Ich wollte nie erwachsen sein auf, drehten ein Video und stellten es auf Ninas YouTube-Channel ein. „Unser Ziel war es nicht, damit Klicks zu erreichen, wir hatten da keine Zahlen im Hinterkopf. Wir wollten das einfach nur für Christian machen,“ erinnert sich Nina. Und ja, für Christian ging damit ein sehr großer Traum in Erfüllung. „Das ist ein irrer Zufall, aber so toll!“, sagt er heute noch immer ein wenig ungläubig.

Nicht nur der gemeinsame Auftritt bei der Jubiläumsgala wurde zum vollen Erfolg. Ihr Video ist mit mehr als 1,5 Millionen Aufrufen viel erfolgreicher als gedacht. „Plötzlich haben wir beide dauerhaft Nachrichten und Kommentare bekommen, und das Video wurde auf Facebook immer weiter geteilt,“ staunt Nina.

Mit starker Botschaft über Nacht zum Star

Mittlerweile singen die beiden regelmäßig miteinander. Bei der Auswahl ihrer Lieder sind sie sich einig: Eine starke Botschaft muss der Text haben. This is Me aus dem Musical The Greatest Showman und weiteres Duett der beiden, ist Christians Lieblingslied. „Es passt einfach,“ findet Nina. Und das stimmt, denn es scheint, als würde Christian die Botschaft des Liedes leben: Schau her, ich bin, wie ich bin, das bin ich. „Genau so würde ich ihn beschreiben. Er geht mit seiner Behinderung um, lebt mit ihr, aber sie bestimmt ihn nicht und ist nicht das Interessanteste an ihm. Er möchte wie ein normaler Mensch behandelt werden. Ich glaube deshalb sind wir auch schon so lange miteinander befreundet.“

Seit seinem YouTube-Erfolg lebt Christian beinahe das Leben eines Stars. Er bekommt täglich Nachrichten und sogar Anrufe von Menschen, die ihm danken und Komplimente machen. Als Star angesehen werden will er aber eigentlich nicht. Er möchte eher ein Freund für die Menschen sein. Und es geht ihm hauptsächlich um das Singen. Er übt auch zuhause täglich. „Mit Nina macht alles einfach irre viel Spaß, nicht nur das Singen. Wir unternehmen viel zusammen. Dass es vom Sport zum Singen gekommen ist, das ist toll,“ sagt er.

Auch Nina macht das gemeinsame Singen mit Christian großen Spaß. „Es tut mir gut, selbst Gutes zu tun. Wenn ich bei jeder Probe Christians Lachen höre, seine Freude sehe und wie fleißig er übt und seine Texte lernt, weiß ich, dass ich das Richtige tue. Das ist einfach eine Herzenssache.“

Gemeinsam zum Erfolg

Den Erfolg seiner Videos schreibt Christian seiner Nahbarkeit zu. „Ich glaube, das liegt daran, dass die Leute jederzeit zu mir Kontakt aufnehmen können. Das macht den Leuten einfach viel Spaß.“ Christian ist immer für jeden da, hört zu und steht mit Rat und Tat zur Seite. „Letztens erst hatte ich wieder Besuch aus Köln,“ erzählt er.

Für viele Menschen ist Christian zum Vorbild geworden. Fragt man ihn, ob er sich selbst auch so fühlt, bleibt er bescheiden. „Mittlerweile fühle ich mich schon als Vorbild, denn viele Leute erzählen mir, dass es ihnen Halt gibt, unsere Lieder zu hören.“ Dass ihr Maffay-Cover so viel Erfolg haben würde, hätten die beiden niemals gedacht. „Es war ja wirklich nur zum Spaß, ein Versuchsballon,“ sagt Christian. Für ihn hat sich damit ein großer Traum erfüllt. Im Tonstudio fühlt er sich frei.

In ihren gemeinsamen Plänen für die Zukunft sind Nina und Christian sich einig: „Ich würde gerne einmal auf der Bühne ein ganzes Konzert geben,“ sagt Christian. „Einfach ganz viel auf der Bühne stehen zusammen mit Nina. Vielleicht auch eine CD oder ein Auftritt mit Peter Maffay.“ An der CD arbeiten die beiden schon. Was weitere Auftritte und mögliche Zusammenarbeiten angeht, ist noch alles offen.

Weitere Infos: https://sentiree.de/sentiree-hilft/

Bildnachweis: privat

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