“Es war für uns die große Wende!”

“Es war für uns die große Wende!”

Dankseiner modernen Therapie hat Martlon seine Hämophilie A im Griff und kann die Zeit mit seiner Familie endlich unbeschwerter genießen.

“Es war für uns die große Wende!”

Marlon (14) kam mit einer erblich bedingten Blutgerinnungsschwäche auf die Welt. Seine Kindheit war geprägt von täglichen Spritzen, das Leben der gesamten Familie drehte sich um die notwendige Therapie. Vor vier Jahren bekam Marlon die Chance, an einer Studie für innovative Therapiemöglichkeiten teilzunehmen. Seither führt er ein ganz neues, freies Leben. Er sagt: „Man darf es halt nicht übertreiben.“, und geht seinen aktiven Hobbys nach wie jeder andere Teenager.

Von Geburt an krank

Marlon ist vierzehn Jahre alt, ruhig, aber gern aktiv. Zuhause im Garten seiner Eltern springt er am liebsten auf dem Trampolin oder spielt Fußball. Seit vier Jahren geht er außerdem dem asiatischen Selbstverteidigungssport Wing Tsun nach, einer körperlich anspruchsvollen Kampfart. Was man ihm bei alldem nicht anmerkt: Marlon leidet seit seiner Geburt an seltener, schwerer Hämophilie A, der Bluterkrankheit. Dabei handelt es sich bei weitem nicht um eine nur bei Schnitt- oder Stichwunden gefährliche Krankheit. Auch jeder stumpfe Stoß kann innere Blutungen auslösen, die für Marlon gefährlich werden und schwere Folgeschäden bis hin zu dauerhaften Behinderungen mit sich bringen können.

Auch kleine Verletzungen sind ein Risiko

Hämophile, auch Bluter genannt, leiden unter einer Blutgerinnungsstörung. Stumpfe Verletzungen, die bei gesunden Menschen keine spürbaren Auswirkungen haben oder nur zu blauen Flecken oder kleinen Blutergüssen führen, heilen bei den Betroffenen nicht von allein. Marlon litt besonders an den Ellbogen unter Hämatomen, die sich zu harten,schmerzhaften Beulen entwickelten. Und das, obwohl erschon ab einem Alter von 9 Monaten zweimal täglich prophylaktisch den sogenannten Faktor VIII injiziert bekam. Dieser ersetzt einen bei Hämophilie-Patienten fehlenden oder verminderten Gerinnungsfaktor.

An Hämophilie A sind in Deutschland nur etwa 4.000 Menschen erkrankt, die meisten von ihnen sind männlich. Frauen treten meist nur als Konduktoren auf: Sie vererben die Krankheit, leiden aber selbst nicht oder nur sehr schwach unter ihr. „Ich habe immer mal wieder Hämatome, bei denen es ewig dauert, bis sie weg sind. Aber ich hätte nie gedacht, dass ich eine Gerinnungsstörung habe“, sagt Marlons Mutter. Außer bei solch langwierigen Heilungsprozessen fiel ihre leicht beeinträchtigte Blutgerinnung nur bei den natürlichen, eigentlich normalen Geburten auf, als sie ungewöhnlich viel Blut verlor und Konserven benötigte. Doch erst
nach der Diagnose ihres ersten bluterkranken Sohnes war auch ihre eigene klar. Bei Marlons Geburt lag dann schon ein Notfallmedikament bereit.

“Er hat sehr gelitten.”

Denn auch Marlons älterer Bruder Elia leidet an der Blutgerinnungsstörung. Seine Eltern dachten daher, sie wären beim zweiten kranken Kind vorbereitet. Aber „jedes Kind ist anders“, sagt Mutter Helga. Nach Elia bekam sie zwei gesunde Mädchen, Marlon folgte als Nachzügler. Eine Fruchtwasseruntersuchung auf Hämophilie kam für die Eltern nicht in Frage. Als sie erfuhren, dass sie wieder einen Sohn erwarteten, stellten sie sich psychisch auf die Möglichkeit der Erkrankung ein. Eine Testung des Nabelschnurblutes direkt nach der Entbindung brachte dann das Ergebnis: schwere Hämophilie A. „Elia war immer ein Sonnenschein, ist nach den Spritzen in die Vene fröhlich aufgestanden“, erinnert sich Helga. Doch bei Marlon war es anders. Er litt unter der Therapie, den ständigen Krankenhausaufenthalten. „Er hat geweint, wenn ich mich nur ins Auto
setzte“, erinnert sich die Mutter. Zu groß war die Angst des Jungen, wieder zum Arzt zu müssen.

Kaum ein Kinderarzt weiß über Hämophilie A Bescheid

Marlons Eltern besuchten einen sogenannten Spritzenkurs, in dem sie 14 Tage lang lernten, ihrem Sohn die Injektionen zu setzen. Da die Venen bei kleinen Kindern sehr dünn sind, bekam Marlon schon früh einen Port unter das Brustbein gesetzt, über den er täglich die nötigen Injektionen erhielt. Doch innerhalb von nur drei Jahren musste sein Portsystem mehrmals erneuert werden, einmal gab die Klinik die falschen Nadeln mit nach Hause, einmal war die Membran des Ports defekt und schließlich kam es zu einer Infektion. „Wir dachten, Marlon stirbt!“, erinnert sich seine Mutter. Mit dem Hubschrauber wurden sie damals in die Klinik geflogen.

Als es möglich schien, und weil Marlons Tante um die Ecke wohnt, besprachen sich die Eltern mit der Kinderärztin und fuhren für ein Wochenende allein in die Berge. Doch die Kinderärztin schaffte es nicht, die Spritze richtig zu setzen. Einspringen musste Marlons großer Bruder. Helgas Schwester besänftigte die besorgte Mutter am Telefon und bat sie, nicht vorzeitig zurück zu kommen. So etwas erlebten sie mit Ärzten häufiger. „Kaum ein Kinderarzt weiß überhaupt von der Krankheit“, sagt Helga. Auswärtige Übernachtungen waren für Marlon nur möglich, wenn sie selbst abends vorbeifahren und ihm seine Injektion geben konnte. Auch mit der Klinik hatten sie erst nach einem Wechsel des Hämophiliezentrums Glück. Dr. Georg Goldmann, bei dem sie sich inzwischen seit vielen Jahren gut aufgehoben fühlen, sprach die Familie vor vier Jahren auf moderne, innovative Therapien an.

Fortschrittliche Therapien ändern alles

Das war eine einmalige Chance und „die große Wende“, so Mutter Helga. Denn, obwohl Marlons Venen irgendwann stark genug waren und er im Alter von sieben Jahren den Port nicht mehr brauchte, blieb das wegen eines entwickelten Hemmkörpers täglich zweimalige Spritzen für alle eine Qual. „Mein Mann hat den Arm gehoben und gehalten, und ich habe gespritzt, und wenn das dann schiefging, hab‘ ich gesagt: du hast ihn nicht richtig gehalten … Wir haben mit Marlon auf dem Schoß heftige Auseinandersetzungen gehabt“, erinnert Helga sich. Einmal habe sie vor lauter Frust alles hingeworfen, sei auf den Spritzen herumgetrampelt und hätte gesagt: „Ich will nicht mehr! Ich kann nicht mehr!“

„Als sich für Marlon im Sommer 2016 die Möglichkeit ergab, an einer der Zulassungsstudien für eine innovative Therapie teilnehmen zu können, entschied sich die Familie sofort dazu“, berichtet der Facharzt für Transfusionsmedizin und Hämostaseologie. „Vor dem Therapiewechsel musste Marlon an 365 Tagen im Jahr zu festen Uhrzeiten 2x täglich substituiert werden. Der Zeitaufwand dafür war enorm hoch, und sie mussten sich an feste Uhrzeiten halten. Jetzt braucht Marlon erheblich seltener eine Gabe, und der Zeitaufwand reduziert sich hierdurch bedeutend“, so Dr. Goldmann weiter. Und Mutter Helga lacht: „Ich muss mir für die Spritze eine Erinnerung ins Handy setzen.“ Sonst vergesse sie die Medikation unter Umständen, weil die Hämophilie so in den Hintergrund gerückt sei. Trampolinspringen, Fußballspielen, sogar mit der schon erwachsenen Schwester für zwei Tage in den Europapark verreisen oder bei der Selbstverteidigung Wing Tsun schon die zweite Stufe erreicht haben – all das ist für Marlon nun ganz normaler Alltag. Aber „man darf es halt nicht übertreiben“, sagt er ganz pragmatisch. Mit den modernen Therapien kommt er so gut klar, dass er sich inzwischen sogar selbst spritzt.

Schicksalsgenossen geben Halt und Hilfe

Dank Therapieumstellung kann die halbitalienische Familie auch endlich in den Urlaub nach Sizilien fahren, ohne das halbe Auto mit Medikamenten vollzuladen. „Früher fuhren wir mit 260 Medikationsfläschchen nach Italien, ich nahm nur drei Kleider mit, die anderen fünf Unterhosen und wenig Kleidung. Jetzt brauchen wir für den Urlaub nur 4 Fläschchen und ich kann auch mal mehr als drei Kleider mitnehmen!“, lacht Helga. Angst hatte sie um ihren Sohn in den letzten Jahren nur noch einmal zu Beginn der Coronakrise, als nicht klar war, ob es einen Medikamentenengpass geben würde. Doch auch da hatten sie Glück, in Bonn von einem
Fachzentrum betreut zu werden, und erhielten Vorräte für mindestens 12 Wochen. „Gerade die letzten Jahre haben in der Hämophiliebehandlung durch Entwicklung neuer Therapeutika und Therapieansätze zu vielen Änderungen geführt, die eine spezialisierte Versorgung und Beratung erfordern“, bestätigt auch Dr. Goldmann.

Zu seinen Freunden nach Hause geht Marlon aber noch immer nicht so gern, er lädt sie lieber zu sich ein. Einige von ihnen hat er auch in Selbsthilfegruppen und bei regelmäßigen Treffen der Interessengemeinschaft Hämophiler e.V. (IGH) und der Deutschen Hämophiliegesellschaft e.V. (DHG) kennengelernt. Seine Mutter sagt, ohne das jährliche Wochenende der IGH im September, ohne die Betroffenengruppen, Vater-Kind-Tage und Spritzkurse wäre in all den Jahren alles noch schwerer gewesen. Sie würde jeder betroffenen Familie raten, sich nicht nur nach einem großen, guten Hämophiliezentrum umzusehen wie dem in Bonn, sondern sich auch eine solche Gruppe Gleichgesinnter zu suchen: „Daraus haben sich wirklich schöne Freundschaften ergeben.“ Und auch der Experte aus Bonn rät: „Gute Hilfestellungen, um z. B. ein geeignetes Zentrum zu finden oder auch zu Themen rund um die Hämophilie, können hier die verschiedenen Selbsthilfeorganisationen geben.“

 

Bildnachweis: MolinaFotografie

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