Kaum behindert mit Halbseitenhemiparese
Janina (28) fährt Ski, Auto, ist erfolgreiche Unternehmerin und Mutmacherin: Jeden Tag hilft sie ihren teils schwer erkrankten oder gehandicapten Klienten als Mentalcoachin dabei, ihre Möglichkeiten voll auszuschöpfen und vor allem ein positives Selbstbild zu erhalten. Das Besondere daran: Janina weiß, wovon sie redet, denn sie wurde selbst mit einer unvollständigen Halbseitenlähmung geboren.
Von Anfang an gut versorgt
Dass ihre rechte Hand sich manchmal steif anfühlte und sich nicht so bewegte, wie es bei einem Säugling sein soll, bemerkten Janinas Mutter und Großmutter, als sie noch nicht einmal ein halbes Jahr alt war. Auch das Bein wirkte in seiner Motorik nicht gesund. Ärztliche Untersuchungen ergaben, dass es sich um eine unvollständige Halbseitenlähmung handelte, vermutlich ausgelöst durch einen vorgeburtlichen Schlaganfall.
Janina bekam sofort regelmäßige Physiotherapie, Frühförderung und trainierte spielerisch zuhause mit Mama, Oma und den Brüdern. Als Kleinkind, vor ihrer Einschulung, fühlte sie sich nicht einmal anders. Sie lernte normal sprechen und konnte im Alter von zwei Jahren laufen. Mit fünf lernte Janina reiten, mit acht Fahrradfahren, später mit dem Vater sogar Skifahren. Es war immer etwas herausfordernder, etwas zu lernen, sagt sie rückblickend, aber es ging.
Erst in der Schulzeit, wenn Kinder beginnen, über sich nachzudenken und sich zu vergleichen, fiel ihr auf, dass sie anders ist als andere. Doch auch, wenn sie das manchmal bedrückte, sagt sie heute: „Ich hatte immer Freunde, Gesangsunterricht, der gut lief, ich bin mit meinen Freundinnen in die Disco gegangen.“ Es fehlte also nichts, ging immer irgendwie voran.
Die Ärzte sahen keine Chance mehr
Doch als sie vierzehn war, wurde Janina von ihren Ärzten überraschend ausgebremst. Von nun an würde ihr gesundheitlicher Status Quo bleiben, hieß es. Eine Verbesserung sei bei aller Mühe nicht mehr zu erwarten. Janina vertraute dem ärztlichen Urteil, so erschütternd es auch war. Doch die Enttäuschung und Perspektivlosigkeit lähmten sie innerlich. Außer in der wöchentlichen Physiotherapie trainierte sie kaum noch, fragte sich: Wozu überhaupt? Wenn es doch sowieso nicht weitergehen sollte für sie.
Dabei war und ist Janina kein Mensch, der seine Ziele niedrig steckt oder aufgibt: Schon früh träumte sie zum Beispiel davon, Musicaldarstellerin zu werden. Davon sollte auch die Hemiparese sie nicht abhalten. Sie schauspielerte in der Schule, stand diverse Male auf der Bühne und spielte sogar als Kinderdarstellerin in einem professionellen Musical mit. Vielleicht warf die Vorhersage ihrer Ärzte sie gerade deshalb in ihrem Antrieb zurück. Das änderte sich erst wieder, als Janina mit 21 ihre Coachin kennenlernte.
“Es gab ja nichts zu verlieren.”
Diese kommentierte die ärztliche Einschätzung mit der simplen Frage: „Was, wenn das nicht stimmt?“, und schlug vor, auf eine ganz neue Art zu trainieren, nämlich mental. Janina ließ sich auf das Experiment ein, obwohl sie anfangs sehr kritisch war. Sie konnte sich zunächst kaum vorstellen, dass die Ärzte im Unrecht sein sollten. Weil es nichts zu verlieren gab, wagte sie den Schritt ins Mentaltraining. „Ich musste von der Identität weg, von >>Ich als Behinderte<< hin zu >>Ich probiere einfach mal aus<<“, sagt sie.
Im zweiten Schritt galt es, sich ein Ziel zu setzen und es entweder zu erreichen oder eben nicht. Es gab ja weiterhin nur etwas zu gewinnen. Janina setzte sich ein Ziel, das für sie verbunden war mit einem positiven Lebensgefühl: Sie wollte mit ihrer rechten Hand ein Sektglas halten, um mit ihren Freundinnen anzustoßen. Wie viele kleine motorische Bewegungen und Einzelschritte zu dieser auf den ersten Blick simplen Aufgabe gehören, wurde ihr erst im Training mit ihrer Coachin klar. Jede einzelne Bewegung, jede muskuläre Veränderung gingen sie gemeinsam durch.
“Menschen sind Negativwahrnehmer.”
Und schließlich, nach zwei oder drei Wochen, gelang es Janina! Der Durchbruch überraschte sie ebenso, wie er ihre Motivation neu entfachte. Heute weiß die Pädagogin und Coachin, dass sich das meiste von dem, was wir schaffen können oder nicht, rein mental in uns abspielt. „Wir sind Negativwahrnehmer“, sagt sie, „schon rein aus evolutionären Gründen.“ Denn wer sich gut an negative Situationen wie zum Beispiel Gefahren erinnert, kann sie künftig auch besser meiden oder bewältigen.
Darum, so die Mentalcoachin, neigen wir leider auch dazu, kleine Fortschritte abzutun und uns vorrangig an das zu erinnern, was nicht so gut geklappt hat. Das gilt auch für’s Training: „Wir nehmen dreimal mehr Negatives als Positives oder Neutrales wahr.“ Ein Erfolgstagebuch sei darum enorm wichtig. In ihm können Betroffene Fortschritte festhalten und nachlesen. Janina begann 2017 ein Onlinetagebuch. Sie führt den Blog auch heute noch, erweitert um wertvolle Tipps für Betroffene oder Eltern von Betroffenen. Denn auch Eltern, die mit ihren Kindern trainieren, sollten deren Fortschritte notieren und regelmäßig hineinsehen.
Offen bleiben für neue Möglichkeiten
Ebenso wichtig, wie sich das Erreichte anzusehen, sei aber auch, sich neue Ziele zu setzen. Janina, die noch während ihres Pädagogikstudiums eine Ausbildung zur system- humanistischen Coachin absolvierte, setzt sich selbst jährlich einige von ihnen. 2021 war eines davon, eine Kaffeetasse mit der rechten Hand zu halten und aus ihr zu trinken. Ihren Erfolg teilte sie dann auch sofort mit den Lesern ihres Blogs.
„Es ist wichtig, die Gedanken zu öffnen für neue Möglichkeiten“, sagt sie. Sie selbst traut sich immer wieder Neues zu und fördert diese Selbstwahrnehmung auch bei ihren Klientinnen und Klienten. Sie zeigt Verständnis, konfrontiert aber auch mit Blockaden, um anschließend zu helfen, diese zu lösen. „Jeder Gedanke macht etwas mit einem“, ist Janina überzeugt.
Coaching-Tipp: Entspannung bewusst einbauen
In ihrem Arbeitsalltag sowohl als Coachin als auch bei der EUTB*, wo sie nebenberuflich als Beraterin tätig ist, erlebt Janina oft auch überforderte Eltern. Oft hört sie die Frage, ob das eigene Kind genug gefördert werde, weiß, dass Eltern manchmal zweifeln, ob sie genug tun. Auch hier, so die Coachin, helfe es, einmal aufzuschreiben, was bereits getan wird, und sich auch einmal einen Wochenplan anzulegen. Dann erst fallen auch die Kleinigkeiten in der Förderung auf, die ritualisiert im Alltag untergehen und gar nichtmehr wahrgenommen werden.
„Ein großes Thema ist immer auch die Entspannung“, sagt Janina. Da eine Hemiparese oft von Spastiken begleitet werde, sei Entspannung ein wichtiger Punkt in der Förderung, der aktiv in den Alltag eingebaut werden sollte. Zudem tue er der ganzen Familie gut und helfe, auch einmal locker zu lassen. Wichtig sei schließlich das glückliche Gesamtbild. „Man muss halt gucken, wer einen am meisten anspricht, wer einem gut tut, und mit einem auf das schaut, was man will“, denn am Ende gehe es um einen selbst und um die eigenen Ziele.
Das Buch zur Botschaft, dass fast alles möglich ist
Janina hat von ihren Zielen viele erreicht. Besonders stolz ist sie auf den Führerschein für einen normalen PKW ohne Bedienungsumbau. Weder bei sich selbst noch als Coachin stellt sie die körperliche Beeinträchtigung in den Vordergrund. Das Handicap an sich spiele nicht so eine große Rolle beim Mutmachen. „Ich denke, was wirklich wichtig ist, ist, zu versuchen den anderen zu verstehen.“ Um diese Botschaft noch weiter zu verbreiten, hat die engagierte Pädagogin nun sogar ein Kinderbuch geschrieben: Lea lernt Fahrradfahren ist das erste Abenteuer von Lea, einem kleinen Mädchen mit rechtsseitiger Hemiparese. Das Buch sowie viele hilfreiche Beiträge zum Leben mit Handicap stellt Janina auf ihrem Blog vor unter www.wie-behindert-bist-du-eigentlich.de – einem Titel, der wie kein anderer zeigt, mit wie viel Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit Janina mit ihrem etwas anderen Leben als Mutmacherin umgeht.
*Die EUTB berät Menschen mit körperlichen oder psychischen „Beeinträchtigungen“ u.a. zum Thema Schwerbehindertenausweis, persönliche Assistenz, Hilfsmitteln, Arbeit mit Handicap, Pflege uvm.
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